Professorin Dr. Anja Katharina Peters lehrt Pflege/Pflegewissenschaft an der ehs Dresden und ist Vorstandsmitglied des DBfK Nordost. Zum ICN-Kongress nach Helsinki ist sie von Neustrelitz aus mit Bahn und Schiff über Berlin, Hamburg, Malmö und Stockholm gereist – und wieder zurück. Ihre Erlebnisse und Erkenntnisse dieser sechs Tage hat sie für das DBfK-Magazin aufgeschrieben:
Von Anja Katharina Peters
Als ich zur Geschichte der Hebammenverbände und der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (eine der Vorgängerorganisationen des DBfK) forschte, stieß ich in den Verbandszeitschriften aus den Jahrzehnten vor dem massenhaften Flugverkehr immer wieder auf Reiseberichte.
Die Kolleginnen, die bis ungefähr in den 1960er-Jahren zu Kongressen reisten, erzählten nicht nur von den Konferenzen an sich, sondern – zu einer Zeit, in der Fernreisen nicht selbstverständlich waren – sie erlebten auch die Reisen dorthin als etwas Besonderes, das berichtenswert war. Wenn ich in den vergangenen Monaten gegenüber Kolleg:innen erwähnte, dass ich klimafreundlich mit Zug und Schiff zum ICN-Kongress nach Helsinki reisen würde, schien das wieder die Faszination am Abenteuer Kongressreise zu wecken. Das Ergebnis ist dieser Reisebericht:
Zuerst muss ich aber den Klimaheiligenschein ein bisschen tiefer hängen: Ich habe Flugangst. Die Klimakatastrophe, auf die wir zusteuern, ist allerdings der Grund, wieso ich diese an sich gut behandelbare Phobie nicht therapieren lasse. Man sollte innerhalb Europas möglichst nicht fliegen. Zu Aspekten wie CO 2 -Ausstoß, Effizienz und Privilegien später mehr.
Erster Reisetag 8. Juni 2025
Meine Reise begann nach langwierigen Planungen mit Wahl zwischen mehreren Routen, Preiskategorien und Anbietern am Pfingstsonntag an meinem Wohnort Neubrandenburg. Vor allem aber fing sie mit Baustellen auf der Strecke und Streichung der Direktverbindung nach Berlin an. Also Abstriche vom hehren Ziel der ausschließlichen Reise mit Bahn und Boot und Bringedienst des Gatten nach Neustrelitz. Dort stieg ich in den ziemlich leeren IC, mit dem ich nach knapp einer Stunde den Berliner Hauptbahnhof erreichte. Da ich schon mal fast einen Nachtzug wegen einer kaputten ICE-Lok verpasst hätte, hatte ich vorsichtshalber drei Stunden Aufenthalt oder eben Puffer eingeplant. Als Pendlerin habe ich einen ausreichenden Kundinnenstatus, um die Lounge nutzen zu können. Damit kann man lange Wartezeiten aushalten. Vor allem war es ein guter Ort, um Robert Parzer zu treffen. Mit ihm forschte ich vor einigen Jahren zur NS-Vergangenheit einiger unserer Altfunktionärinnen. Robert und ich hatten es seit 18 Monaten nicht mehr geschafft, uns zu treffen. Über einen meiner Posts auf Bluesky stellte er fest, dass wir beide zeitgleich verschiedene Konferenzen in Helsinki besuchen und auch noch auf dieselbe Weise anreisen würden – nette Reisebegleitung gesichert.
Das machte auch das Warten angenehmer: Der Nachtzug Snälltåget nach Stockholm hatte Verspätung aufgrund Verzögerungen zwischen Dresden und Hamburg. Offensichtlich fühlt sich die Deutsche Bahn nicht verantwortlich für einen schwedischen Zug: Er verschwand einfach von den Anzeigen. Die freundlichen Snälltåget-Mitarbeiter, die mit uns auf ihren Zug warteten, konnten uns Auskunft geben.
Der schwedische Nachtzug fährt mit älteren deutschen InterRegio- und City Night Line-Wagen. Entsprechend ist der Charme etwas plüschig. Dank der Klimaanlage ist es zumindest nicht heiß; der Kapuzenpulli kam zum Einsatz. Die Waschräume sind winzig, die Toiletten geräumig und beides sehr sauber. Duschen gibt es nicht. Die Abteile sind für sechs Personen mit Stockbetten vorgesehen. Man kann sie allerdings auch für kleinere Gruppen oder als Single-Abteil buchen.
Beim Bettenbauen entstand ein bisschen Jugendherbergsfeeling. Da ich mit Reiserucksack unterwegs war, weckte das Setting Erinnerung an Reisen zu Ausbildungszeiten und während des Studiums – damals tatsächlich in Sammelabteilen oder im Liegewagen.
Ab Hamburg wurde es spannend: Unser neuer Lokführer saß in einem verspäteten Zug, was zur Folge hatte, dass wir eine große Nachtbaustelle nicht passieren konnten. Deshalb wurden wir in Neumünster bis zur Streckenfreigabe um fünf Uhr auf das sprichwörtliche Abstellgleis geschoben. Für den Nachtschlaf war das förderlich. Vorher wurden wir aufgefordert, in Hamburg noch schnell Proviant zu kaufen, weil die Snackbar allmählich leergefegt war und wir den Koppelzug mit dem Bordrestaurant in Malmö verpassen würden. Der Hamburger Hauptbahnhof ist kein Ort, an dem ich mich nachts aufhalten möchte. Robert Parzer dachte erstmals über das Fliegen nach.
Zweiter Reisetag 9. Juni 2025
Eingeschlafen in Norddeutschland, erstmal aufgewacht in Dänemark. Den Tee aus der Snackbar trank ich schon mit Blick auf den Öresund. Die Fahrt über die Öresundbrücke (bzw. darunter; ganz oben fahren die Autos) ist immer wieder beeindruckend. In Malmö bekam unser Zug dann zwar keinen Speisewagen, aber einen zusätzlichen Sitzwagen und ich mit Robert einen Kabinennachbarn, weil er sich zu mir gesellte. Koexistierendes Arbeiten mit Blick auf Schweden. Da wir uns in Malmö doch nicht trauten, auf längere Einkaufstouren zu gehen, während unser Zug ab-, um- und angekoppelt wurde, waren wir dann bis Stockholm auf die Reste von zuhause und Reiswaffeln angewiesen. Tee und Kaffe gab es wegen der Unannehmlichkeiten, für die Snälltåget nichts konnte, umsonst.
Ab Malmö ging es nordwärts Richtung Stockholm, während sich links und rechts Schweden wie aus einem Buch von Astrid Lindgren präsentierte: Wälder mit vielen Birken, viel Wasser und rote Häuser. Dieses tatsächliche Erleben der Reise, das wirkliche physische Nachvollziehen des Sich-Begebens von einem Ort im Herkunftsland zu einem anderen im Zielland mit all den Etappen und Eindrücken dazwischen macht für mich – abgesehen vom Klimaschutz – den Reiz des Traivellings (von train = Zug + to travel = reisen) aus. Nebenbei bietet die Zugfahrt Gelegenheit zum Korrigieren von Abschlussarbeiten oder der Planung von Lehrveranstaltungen – sofern nicht gerade die Aussicht ablenkt. An dieser Stelle ein wichtiger Reisehinweis für alle, die mobil arbeiten: Der Snälltåget bietet in den Abteilen lediglich USB-Anschlüsse und keine Steckdosen.
Der Zug kam letztendlich mit 2,5 Stunden Verspätung in Stockholm an, was aber immer noch ausreichend Zeit für einen kleinen Rundgang durch die Altstadt bot. Da ich auf dem Rückweg mehr Zeit zur Verfügung haben würde, blieb es bei einem Abstecher bis zum Schloss und ein bisschen Bummeln durch die Gassen. Für das Reisegepäck stehen am Hauptbahnhof Schließfächer zur Verfügung.
Weil die Verkehrsführung in der Stockholmer Innenstadt verwirrend ist und der Rucksack schwer war, entschieden Robert Parzer und ich uns dafür, ein Taxi zum Anleger zu nehmen. Das Einchecken lief unkompliziert, beim Securitycheck kam Fernreisefeeling auf und dann begann das Warten auf das Onboarding – wie am Flughafen, nur mit mehr Wasser.
Gegen 19.30 Uhr betraten wir die Viking Glory. Wer noch muffige Fähren mit Truckerfeeling in Erinnerung hat, wird ebenso begeistert sein, wie wir es waren: Die heutigen Ostseefähren sind Minikreuzfahrtschiffe mit Jazz in der Lounge und hochwertigem Essen. Die Kabinen variieren von Mehr-Personen-Innenkabinen bis zur Suite. Nach dem Beziehen unserer Kabinen trafen wir uns auf dem Sonnendeck. Die Fahrt durch die Schären vor Stockholm ist bezaubernd, mit untergehender Sonne war es geradezu kitschig.
Wer mag, kann ins Spa gehen oder abends in den Club. Das haben wir dienstreisend nicht gemacht, aber das Essen im Restaurant war lecker, die Aussicht immer noch wundervoll und ein süßer Absacker im Café auch noch drin. Spätestens an diesem Punkt waren alle in Hamburg aufgekommenen Gedanken ans Doch-Fliegen endgültig verflogen. Auf einer Website las ich, dass Finnland ein Paradies für Menschen mit Unverträglichkeiten wäre. Das fängt auf dem Schiff an: Alles ist eindeutig ausgezeichnet, und laktose- und glutenfreie Auswahlmöglichkeiten verstecken sich nicht verschämt auf der Karte, sondern sind selbstverständlich fester Bestandteil des Angebots.
Die Betten sind übrigens wirklich so gut, wie Viking auf der Unternehmenswebsite wirbt. Dass wir beide am 10. Juni um 7:35 Uhr etwas übermüdet von Bord gingen, lag am späten Zu-Bett-Gehen (wir mochten uns nicht von der Aussicht trennen) und der einen Stunde Zeitverschiebung. Das finnische Halb acht war unser Halb sieben.
Dritter Reisetag 10. Juni 2025
Der Bahnhof Turku Port befindet sich ungefähr 150 Meter vom Terminal entfernt. Dort wartete bereits mein Zug nach Helsinki. Robert hatte einen späteren Zug gebucht, so dass sich unsere Wege hier trennten: In finnischen Zügen herrscht Reservierungspflicht, man muss den gebuchten Zug nehmen. Immerhin blamierte ich mich so ohne Zeugen – durch das ganze Selbst-Buchen über mehrere Reisetage hinweg hatte ich zwar die richtige Uhrzeit, aber am Montag gebucht, und der war ja schon 24 Stunden vorbei. Die freundliche Zugbegleiterin stellte mir dann einfach eine neue Fahrkarte aus und gewährt mir sogar Rabatt. Ob wegen der vorliegenden Fahrkarte, meinem schuldbewussten Auf-sie-Zugehen oder aus Mitleid mit meiner Dusseligkeit weiß ich nicht. Anschließend ging es entspannt nach Helsinki. Am späten Vormittag am Hauptbahnhof in Helsinki (Nationaljugendstil: beeindruckend und wuchtig) noch ein Taxi genommen, den Reiserucksack im Gepäckraum des Hotels gelassen, in den richtigen Bus zum Messezentrum gestiegen: ICN2025 – es konnte los gehen. (Dass ich erst am Dienstag ankam und deshalb die Eröffnung verpasste, lag nicht an der Reisedauer, sondern an einem privaten Termin am Wochenende.)
Auf einen Bericht über den Kongress verzichte ich, er erfolgt umfangreich hier im DBfK-Magazin. Ich habe einige persönliche Eindrücke unter den Hashtags #ICN2025 und #ICNCongress2025 auf Mastodon gepostet.
Erster Heimreisetag 13. Juni 2025
Da man als Bahnkundin gelegentliche Verspätungen gewohnt ist, hatte ich auf jeder Reiseetappe großzügige zeitliche Puffer eingeplant. Das sollte später noch von Nutzen sein; am Schlusstag des ICN-Kongresses führt es leider dazu, dass ich das große Finale mit Bekanntgabe des neuen Präsidenten verpasste. Aber dafür gibt es ja DBfK-interne Messengergruppen, und ich war trotzdem fast in Echtzeit informiert, während ich wieder durch Finnland Richtung Turku fuhr. Die Aussicht lässt sich kurz zusammenfassen: grün. Diesmal hatte ich auch den richtigen Zug gebucht, einen Sitzplatz und keinen Stress.
Da ich auf der Rückreise nicht nach Ankunft kongressfit sein musste, hatte ich bei der Buchung in der Kabinenkategorie ein bisschen abgespeckt und eine Kabine mit Stockbetten gebucht. Diese belegt man aber trotzdem alleine. Die Betten sind nicht Queensize mit werbetauglicher Matratze, aber immer noch sehr bequem. Worauf ich nicht verzichten wollte, war das Bullauge; deshalb hatte ich wieder eine Außenkabine gebucht. Allerdings führte das zur nächsten kurzen Nacht… ich komme gleich darauf zurück.
Auf der Rückreise war ich alleine unterwegs. Das führte im Restaurant zu irritierten und nicht ausschließlich freundlichen Blicken: Ich hatte diesmal kein Essen im „Market Place“ mit seinen Essensbars eingeplant, sondern einen Tisch am Fenster im Buffetrestaurant reserviert. Da Platzierungspflicht gilt und Viking Line nicht einfach Fremde zusammenwürfelt, okkupierte ich also in – nach einem Kongress mit 7.000 Teilnehmenden aus meiner Sicht – wundervoller Einsamkeit einen Spitzenplatz am Fenster, wo ich nicht nur das wirklich exzellente Essen genoss, sondern auch die wunderbare Aussicht auf die Turkuer Schären bei Mittsommernachtssonne. Man kann es nicht anders beschreiben als: bezaubernd. Übrigens versuchte ich nicht, die 44 Euro für das Buffet reinzufuttern, sondern probierte mich ein bisschen durch, bis ich satt war. Das war für das Wohlbefinden besser und ein Genuss.
Zum Tagesabschluss gab es noch eine halbe Stunde Schöner-Schären-Schauen vom Sonnendeck. Mittlerweile war es Nacht, aber so weit nördlich immer noch hell, und wir wurden von zahlreichen Segelbooten begleitet, bis ich dann doch in meine Kabine ging. Dort hatte ich dann allerdings durch das Bullauge einen erstklassigen Blick auf den Sonnen(beinahe)untergang um Mitternacht und es wurde wieder eine kurze Nacht.
Zweiter Heimreisetag 14. Juni 2025
Diesmal hatte ich den Shuttlebus vom Hafen zum Busbahnhof gebucht, der direkt an den Hauptbahnhof in Stockholm angrenzt. Und wieder bewies sich, dass man Reinigungspersonal wertschätzen sollte: Wir Tourist:innen kannten uns alle nicht aus; also übernahm eine Reinigungsfrau auf Mitsommerheimaturlaub am Hafen das Kommando und lotste uns alle zum richtigen Bus. Im Hauptbahnhof kannte ich mich ja schon ein bisschen aus und damit auch den Weg zu den Lockerschränken. Allerdings fiel, während ich mein Gepäck einsperrte, der Bildschirm ins Koma. Schrank zu, Hotline auf Schwedisch, kurz Stress, bis ein freundlicher Schwede für mich die Nummer anrief und ich die Auskunft erhielt, dass bald Personal vor Ort sein würde. Während der nette Schwede einem anderen Herrn mit Gepäck mein Problem schilderte und ihm versicherte, dass er nicht alleine wäre, deutete er auf meinen Locker, worauf dieser aufsprang. Ich schlug ihm vor, mit der Nummer auf Tournee zu gehen.
Neuer Locker, alles heile, und dann ging es endlich Richtung des vorab ausgesuchten Cafés BodyBuddy nahe der alten Markthalle. Den Namen finde ich zwar albern und man muss Räucherstäbchen mögen, aber das Essensangebot (gluten- und laktosefrei und ohne raffinierten Zucker) klingt zwar asketisch, ist jedoch wirklich hervorragend. Mittlerweile hatte ich wirklich Hunger und eine Toilette war auch von Nöten, aber das Café öffnete erst um 10 Uhr. Das wiederum führte dazu, dass ich in der Zwischenzeit die Orgeln der Hedvig Eleonora-Kirche (nicht nur Stundenbimmeln, sondern mehrstimmiger Choral in Glocke) erlebte und auf der Suche nach einem WC die wunderschöne Markthalle entdeckte. Dort gibt es nicht nur sehr saubere Sanitäranlagen, sondern zahlreiche Lebensmittelstände im Delikatessenbereich. Ich weiß nicht, ob jede:r das dort verorten würde, aber ein Familienmitglied war sehr glücklich über die gewünschten Elch- und Rentierknacker. Bei Bärensalami habe ich aber gestreikt. Das ist zwar irrational, aber irgendwie meine Grenze.
Anschließend schlenderte ich noch einmal durch die Innenstadt und nachmittags kam dann der Zeitpuffer zum Einsatz: Mein Zug nach Malmö hatte eine satte Stunde Verspätung. Dafür sind die Sitze in der ersten Klasse wirklich furchtbar bequem – furchtbar, weil ich eigentlich arbeiten wollte und ziemlich müde war wegen besagter kurzer Nacht. Im Zug gab es Kaffee, Tee, Wasser, Obst und Riegel umsonst. Die Zugbegleiterin war erstaunt, dass das bei der Deutschen Bahn nicht Usus ist; man würde doch genug bezahlen. Wahr gesprochen. Ich hatte mir vorab ein Abendessen bestellt, weil mein Schiff in Trelleborg sehr spät ablegen würde und ich nicht wusste, ob ich vorher etwas Essbares finde. Die schwedische Bahn bietet eine vegane, glutenfreie Option an. Den veganen Hähnchenersatz mochte ich nicht, aber das restliche Essen war gut, und mit dem Tablett mit seinen Schälchen fühlte es sich wie früher im Flugzeug an.
In Malmö sputete ich mich ein bisschen und erreichte meinen Anschlusszug nach Trelleborg – der dann allerdings ohne Vorankündigung wegen Bauarbeiten an irgendeinem Dorfbahnhof stehen blieb. Dysfunktional kann also nicht nur die deutsche Bahn. Ein schwedisches Pärchen dirigierte mich zu den bereits wartenden Ersatzverkehrtaxis. In meinem lernte ich einen reizenden Herrn mit Autismusspektrumstörung und ADHS und seine ebenfalls freundliche Hündin kennen, mit dem es ein nettes Fachsimplen bis zum Bahnhof war. Reisen bildet echt.
Dank des eingeplanten Zeitfensters war ich 15 Minuten vor Ende des Selbst-Check-ins im Bahnhofsgebäude. Die Fähre von TT-Line war dann tatsächlich eine Auto- und LKW-Fähre, in der auch Fußgänger:innen mitfahren dürfen. Da ich mittlerweile wirklich sehr müde war, reagierte ich etwas ungeduldig, als in mehreren Kabinen (unter anderem meiner) die Toiletten defekt waren und wir bis nach dem Ablegen warten mussten, ob wir neue zugeteilt bekommen würden.
Bekamen wir und das Bett war auch bequem. Ich war ganz froh, dass die Ostsee in der Nacht auch ruhig war, weil diese Fähre deutlich mehr schwankte, als das Beinahe-Kreuzfahrtschiff nach Turku.
Vom kostenfreien Frühstück am nächsten Morgen, das ich aus mir unbekannten Gründen gewonnen hatte, konnte ich nicht viel mitnehmen, weil ich a) leider das diätetische Bullerbü der nordischen Länder wieder verlassen hatte und wir b) früh in Rostock ankamen und c) das Reinigungspersonal bereits vor dem Anlegen alle Reisenden aus ihren Kabinen komplimentiert. Es war nicht weiter schlimm, ich hatte mit Proviant vorgebaut.
Dritter Heimreisetag 15. Juni
Am Hafen Rostock wurden wir kommentarlos gefühlt im Nirgendwo abgesetzt. Auf meine Nachfrage wies uns der Shuttlebusfahrer zur Haltestelle des Rostocker Stadtbusses. Dort war zwar nicht ausgeschrieben, wie man in die Innenstadt kommt, aber ein Hafenarbeiter nach der Nachtschicht erklärte mir kategorisch, dass eine Taxifahrt zu teuer wäre. Also mit dem Bus bis Lütten Klein und von dort mit der S-Bahn zum Rostocker Hauptbahnhof. Ich war wohl wirklich etwas düselig: In der S-Bahn lies ich den Beutel mit den Mitbringseln (!) für den Nachwuchs (!!) stehen. Ein Hoch auf das Konzept der Endhaltestelle, und ich wusste gar nicht, dass ich so schnell laufen kann. Die Geschenke konnten sichergestellt werden und ich war wach. Und so ging es dann direkt mit dem IC aus Rostock zum Dienstort Dresden, wo ich am späten Mittag eintraf. Dort endete meine Reise zum ICN-Kongress 2025 in Helsinki, die zusätzlich zum Kongress mit seinen vielen Eindrücken für viele Impulse, Gedankenanregungen, neue Bilder und interessante Begegnungen gesorgt hatte.
Diskussion
Ich durfte nicht nur den ICN-Kongress, sondern auch eine tolle Reise erleben. Nicht nur waren die Fahrten ein Abenteuer – ich habe außerdem nur ungefähr ein Fünftel des CO2-Ausstoßes verursacht, den die Flugreisenden auf ihrem Klimakonto haben. Es ist angesichts der Klimakatastrophe, in der wir uns schon befinden, nicht mehr zu verantworten, innerhalb Europas zu fliegen.
Beim Kongress war auch Indigenous Nursing/Nurses ein Thema. Wer die Anliegen indigener Kolleg:innen, die vom Klimawandel oft besonders betroffen sind, ernstnimmt, sollte auch das eigene Reiseverhalten hinterfragen. Auch weitere Themen zeigten, dass wir die Auswirkungen der Erderwärmung nicht mehr nur aus grundsätzlichen ökologischen und moralischen Gründen bedenken müssen, sondern dass diese längst unseren Arbeitsalltag beeinflussen. Klimaschutz muss endlich ein relevanter Faktor bei der Beantragung und Bewilligung von Dienst-/Fortbildungsreisen werden.
Dass ich deutlich länger unterwegs war, schlägt natürlich aufs Zeitkonto. Allerdings möchte ich der Zeiteffizienz die Lerneffekte gegenüberstellen und für ein breiteres Bildungsverständnis plädieren: Ich habe während der Reiseetappen Menschen, Situationen, Verhaltensweisen und Pflegephänomene beobachten können und daraus gelernt oder Ableitungen gemacht. Wir sind Pflegefachpersonen – Beobachten ist eine unserer Kernkompetenzen und natürlich lernen wir während solcher längeren Reisen. Abgesehen davon gilt der alte Spruch: Reisen bildet, weil es den Horizont weitet. Auf der offenen Ostsee ganz sprichwörtlich.
Ein weiterer Zeitaufwand ergibt sich aus dem umständlichen Buchen über mehrere Unternehmen, die wiederum das Risiko erhöhen, dass etwas schiefgeht. Beispielsweise haftet keines der Beförderungsunternehmen dafür, dass ich meinen Anschluss erreiche, weil Unternehmen A mich ja nur von einem bis zum nächsten Ort bringen und sich um Unternehmen B nicht kümmern muss. Diese Buchungen kosten Zeit und auch Nerven. Wenn große Organisationen wie Kliniken das klimafreundliche Reisen ernst nehmen, müssten sie eine Stelle schaffen, die das Personal bei diesen komplizierten Buchungsprozessen unterstützen.
Vor allem aber muss man sich klimafreundliches Reisen in style leisten können. Man kommt einigermaßen kostengünstig mit Bahn und Fähre von Deutschland nach Finnland, wenn man in der „Holzklasse“ fährt: also Sitzplatz statt Liegeplatz oder Sechser- statt Einzelkabine oder Innen- statt Außenkajüte. Ich bin erster Klasse gefahren und habe meine Reisekosten selbst bezahlt. Inklusive der Hotelkosten in Helsinki waren das etwa 2.000 Euro. Das ging, weil ich als Professorin gut verdiene und meine Familie bereit war, auf den Sommerurlaub zu verzichten, damit ich zum ICN-Kongress fahren kann. Ich halte dieses erstklassige Reisen bei einem (auch ziemlich teuren) Kongressbesuch aber für gerechtfertigt, weil ich dort fit sein wollte und retour auch gleich wieder arbeiten und auf dem Damm sein musste. Eine Kollegin war verwundert, dass ich nach dem (positiven) Stress nicht krank geworden wäre. Natürlich war diese Art des Reisens anstrengend, aber durch die Rahmenbedingungen eben nicht überbeanspruchend. Das ging aber nur, weil ich aufgrund meiner Position und meines Lebens- und Arbeitsortes privilegiert bin.
Fazit
Ich durfte eine tolle Kongressreise erleben und bedanke mich bei allen Kolleg:innen, die mich während dieser Zeit vertreten haben. Mit meinen Erfahrungen bin ich noch mehr als vorher davon überzeugt, dass eine Neujustierung bei Fortbildungs- und Dienstreisen dringend geboten und möglich ist. Dafür bedarf es eines Umdenkens sowohl auf der individuellen als auch mehr noch auf der institutionellen Ebene. Klimafreundliches Reisen kostet zunächst mehr an Zeit, Geld und gelegentlich auch Nerven, aber: Wer Europa erlebt, schätzt es vielleicht auch mehr. Und wenn wir noch eine Weile unter erträglichen Bedingungen auf diesem Planeten pflegen möchten, müssen wir ihn dringend schützen.
P.S.: Der nächste ICN-Kongress wird in Südostasien stattfinden. Da kapituliere sogar ich. Man kommt zwar ohne Fliegen hin, aber es liegen China, Russland und die USA im Weg – alle gerade keine Hotspots für Backpacker. Ein Grund mehr, sich für Demokratie und Frieden einzusetzen. Ich werde digital teilnehmen.