DBfK aktuell - Mai 2025

„Im Kodex steht nicht: Geh über deine Grenzen und mach dich fertig“

Der International Council of Nurses (ICN) hat 1953 erstmals einen Ethikkodex verabschiedet und ihn seitdem einige Male überarbeitet, zuletzt 2021. Für Deutschland hat der DBfK daran mitgewirkt. Der Kodex formuliert Werte, zu denen sich die Pflegefachpersonen weltweit bekennen und verpflichten. Diese Werte schaffen Rahmenbedingungen zur Ausübung des Berufs und verbinden die Pflege international. 

Im vergangenen Jahr hat der DBfK seine Satzung dahingehend verändert, dass das Commitment zum ICN-Ethikkodex bindend für die Mitglieder ist. Mit Constanze Giese, Professorin für Ethik und Anthropologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule (KSH) München im Studiengang Pflegemanagement / Pflegepädagogik, haben wir anlässlich des Tags der Pflegenden am 12. Mai über den Ethikkodex für beruflich Pflegende gesprochen.

DBfK aktuell: Welche Bedeutung hat der Ethikkodex für beruflich Pflegende?
Constanze Giese: Er ist Ausdruck des Selbstverständnisses der Profession. Ein berufsethischer Kodex hat immer eine Doppelfunktion. Zum einen ist es eine Selbstvergewisserung für die Berufsgruppe: Was ist unser Auftrag? Was ist die eigene professionelle Identität? Oder einfacher gesagt: Wer sind wir, was machen wir und wofür sind wir verantwortlich? Ethik hat im Grunde viel mit Verantwortung zu tun. Es geht um eine Verständigung der Pflegefachpersonen auch auf internationaler Ebene darüber, was die Profession in einem Binnenraum wie einer Einrichtung, einer Kommune oder in einem Land ausmacht. Außerdem darum, was nur diese Profession international für die Menschen beizutragen hat. Der ICN ist nicht irgendjemand, sondern der internationale Berufsverband, in dem sich die nationalen Dachverbände zusammenschließen. Das hat Gewicht.

Prof. Dr. Constanze Giese ist Professorin für Ethik und Anthropologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule (KSH) München. Sie lehrt und forscht an der Fakultät für Gesundheit und Pflege. Sie ist examinierte Krankenschwester und arbeitete auf einer Intensivstation und in der Akutspychiatrie. Anschließend studierte sie Katholische Theologie und Philosophie in München und schloss 1997 mit dem Diplom ab. Es folgte ein Promotionsstudium in Moraltheologie, das sie 2001 mit der Promotion zum Doktor der Theologie abschloss. Bis 2001 arbeitete sie außerdem als Referentin in der Erwachsenenbildung und als Dozentin für Ethik in der Pflege.
Prof. Dr. Constanze Giese ist Professorin für Ethik und Anthropologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule (KSH) München. Sie lehrt und forscht an der Fakultät für Gesundheit und Pflege. Sie ist examinierte Krankenschwester und arbeitete auf einer Intensivstation und in der Akutspychiatrie. Anschließend studierte sie Katholische Theologie und Philosophie in München und schloss 1997 mit dem Diplom ab. Es folgte ein Promotionsstudium in Moraltheologie, das sie 2001 mit der Promotion zum Doktor der Theologie abschloss. Bis 2001 arbeitete sie außerdem als Referentin in der Erwachsenenbildung und als Dozentin für Ethik in der Pflege.

Zum anderen hat der Kodex die Funktion, nach außen – in die Breite der Gesellschaft – zu verdeutlichen: Was habt ihr von der Pflege zu erwarten – als pflegebedürftige Menschen, als Kolleg:innen anderer Professionen und als Politik und Gesellschaft.

Gibt es aus Ihrer Sicht einen ganz zentralen Punkt oder Abschnitt im Kodex?
Zunächst ist das natürlich die Präambel, in der die pflegerische Verantwortung und zentrale Aufgaben beschrieben sind, dann bauen die Abschnitte aufeinander auf und beziehen sich aufeinander. Aus dem Aufbau ergibt sich das erste Element als elementar: Hier geht es um die Verpflichtung auf das Wohl der Patient:innen bzw. pflegebedürftigen Menschen, zugleich um Respekt vor der Autonomie und Selbstbestimmtheit. Ich glaube, die Präambel ist gerade für uns in Deutschland sehr wichtig, weil Pflegende hier immer noch etwas sprachlos reagieren auf die Frage: Was machst du denn eigentlich, was ist dein Beruf? Wenn man die Präambel des Ethikkodex kennt, kann man das professionell beantworten.


Der Kodex ist ein theoretisches Konstrukt. Wie können Pflegefachpersonen ihn in den Berufsalltag mitnehmen?
Hilfreich ist, die Struktur zu verinnerlichen, dann weiß man, mit welchem Element man jetzt etwas erreichen könnte – entweder für die anderen oder für sich selbst. Die Art und Weise der Berufsausübung wird nach meiner Ansicht sehr konkret dargestellt. Das Interessante ist, dass Pflegende die Verbindung zu den konkreten Inhalten des Kodex oft nicht herstellen, wenn sie vor einer praktischen ethischen Herausforderung stehen und sich fragen, was sie primär tun sollen. Beispielsweise wenn sie mit fehlerhaftem Handeln von Kolleg:innen konfrontiert sind, wenn sie unzureichende Arbeitsbedingungen vorfinden oder wenn es um Berufspolitik und Ausbildungsverantwortung geht. Zu all dem bietet der Kodex Orientierung.

Ich stelle mir den Kodex von seiner Struktur her immer in konzentrischen Kreisen vor. Ganz innen der pflegebedürftige Mensch und ich als Pflegefachperson in der Pflegebeziehung. Im nächsten Kreis die Berufspraxis, also wie übe ich den Beruf aus, wie gestalte ich die Praxis. Dann kommt die Professionsentwicklung, das geht wieder einen Schritt weiter. Da geht es nicht nur darum, wie ich praktiziere, sondern was ich beitragen kann, damit die Profession vorankommt. Nicht nur im Sinne von gewerkschaftlicher Aktivität, die brauchen wir auch, aber hier geht es darum, die Profession berufspolitisch und auch wissenschaftlich weiterzuentwickeln dahingehend, was sie für die Gesellschaft leisten kann. Und der vierte konzentrische Kreis außenherum ist die globale Gesundheitsversorgung. Da erschrecken viele und sagen: ,Was, das soll ich jetzt auch noch machen?‘ Aber Achtung, das ist keine Verpflichtung für jede Einzelperson, sondern adressiert die Profession und deren Mitglieder, je nachdem, wo sie stehen. Da geht es um die Vorsorge vor gesundheitlichen Katastrophen, Krisen, Kriegen, denken Sie nur an Corona. Wenn sich die Pflege also Verantwortung zuschreibt, heißt es ja nicht, dass jede einzelne Pflegefachperson alles leisten muss. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich dazu von Kolleg:innen höre: ,Aber das kann ich doch jetzt nicht auch noch.‘ Und ich sage dann: Niemand muss alle Verpflichtungen, die der ICN auf organisationaler, nationaler oder internationaler Ebene im Kodex beschreibt, erfüllen und schon gar nicht gleichzeitig. Aber alle sind verpflichtet, die Verantwortungsübernahme der Kolleg:innen in ihren jeweiligen Bereichen nicht zu unterlaufen oder zu boykottieren. Der Kodex erwartet hier eine grundsätzliche Identifikation mit diesen Aufgaben der Profession, mehr wird nicht verlangt.


Wir alle kennen Situationen im Arbeitsalltag, in denen es die Bedingungen nicht zulassen, genau nach den ethischen Werten zu handeln. Wie geht man als beruflich Pflegende:r damit um?
Ich würde nicht so uneingeschränkt stehen lassen, dass man nach den Werten nicht handeln kann. Man kann vielleicht nicht immer nach den gleichen und allen handeln. Hier gibt es das schöne Element zwei im Kodex: Pflegefachpersonen und die Praxis. Ein inhaltlicher Punkt (2.4) ist, dass ich als Pflegefachperson das Recht habe, sogar die Pflicht, auf mich und meine Gesundheit zu achten. Damit ist Selbstausbeutung ausgeschlossen. Ich habe das Recht auf Arbeitsumstände, die mir ein Arbeiten gemäß dem Kodex ermöglichen. Was aber oft für viele noch schwieriger ist als die Selbstausbeutung, ist für sich einzustehen und zu sagen: ,Ich kann das jetzt nicht leisten, das ist zu viel.‘ Das ist weniger ein ethisches als vielmehr ein psychologisch oder soziologisch zu erklärendes Phänomen. Im Grunde ist klar: Patientenorientierte Pflege und individuell angemessene Pflege auf dem Stand des Pflegewissens kann ich nicht leisten, wenn ich eine deutlich unterbesetzte Station vorfinde. Die logische Konsequenz wäre also, das zu kommunizieren, Alarm zu schlagen und nicht zu versuchen, es stillschweigend einfach irgendwie hinzukriegen. Und das heißt auch nicht, dass ich dann nach Hause gehe oder mich weinend hinsetze. Natürlich bleibt die Verantwortung bestehen, darauf zu achten, dass niemand größeren Schaden nimmt. Aber der Ethikkodex ist dann nicht die Keule, die mich auch noch unter Druck setzt und sagt: ,Jetzt hast du wieder gegen die verschiedenen Werte und Prinzipien verstoßen.‘ Der Ethikkodex sagt: ,Du hast das Recht auf Arbeitsumstände, unter denen du so arbeiten kannst, wie wir das für professionell angemessen halten.‘ Genau das steht darin. Es steht da nicht: Geh über deine Grenzen und mach dich fertig.


Der Kodex ist 2021 aktualisiert worden. Sehen Sie neuerlichen Aktualisierungsbedarf, z. B. in Bezug auf technische Entwicklungen?
Bei der letzten Anpassung fand ich eine große Schwäche, dass der Kodex sehr umfänglich geworden ist. Das alles kann sich kaum noch jemand merken. Einige in der Berufsgruppe möchten es vielleicht noch konkreter und handhabbarer. Ich glaube aber nicht, dass Detailreichtum es einfacher für die Leser:innen macht. Wir brauchen kein Handbuch und kein Kochbuch. Es ist ein Ethikkodex und die Kolleg:innen können selber denken. Ich würde mir wünschen, dass er übersichtlicher und wieder etwas gestrafft wird und dass die Querschnittsthemen wie Technik oder Bildung, die in alle Elemente gehören, auch erkennbar als solche dargestellt werden.
Eine ganz große Stärke der Neuauflage ist die Betonung der Verantwortung für die Weitergabe von Wissen innerhalb der Profession. Das ist etwas sehr Konkretes. Es gibt Kolleg:innen, die glauben, es sei nicht nötig, ihr Wissen an die Schüler:innen oder Student:innen weiterzugeben. Oder sie glauben, es sei nicht ihre Verantwortung, weil es ja die Praxisanleitung gibt. Aber wer das Privileg einer guten Ausbildung, vielleicht Fort- und Weiterbildung genossen hat, ist auch soweit möglich zur Weitergabe verpflichtet. Dass dieser Punkt explizit im Kodex aufgenommen wurde, halte ich für einen großen Gewinn. Jede:r hat Verantwortung für Wissen und dessen Weitergabe.


In der Berufsgruppe ist der Kodex bekannt, die Pflegebedürftigen kennen ihn aber in der Regel nicht. Wie lässt er sich nach außen bekannter machen?
Pflegebedürftige Menschen haben eine Erwartung an Pflege, die sich oft nicht ganz mit dem Selbstverständnis der Pflegefachpersonen deckt. Diese Erwartung ist vielleicht inzwischen relativ niedrig, weil sie auch wissen, wie eng getaktet die Pflege arbeiten muss. Aber intuitiv ist ihre Erwartung vielleicht gar nicht so weit weg vom ersten Element des Kodex. Und dann gibt es ja auch den schönen Begriff der Advocacy, also das Eintreten für die Patient:innen. Das erwarten viele schon gar nicht mehr, es ist aber Teil der Kernbotschaft im Ethikkodex. Das Hauptmissverständnis ist hier, dass die pflegebedürftigen Menschen die Pflege weniger professionell einschätzen, als sie ist oder sein sollte. Sie neigen dazu zu glauben, Ärzt:innen seien Vorgesetzte der Pflegenden. Und wenn die Pflege nicht nett ist, irgendetwas nicht passt oder nicht verstanden wird, ist es ,der Doktor‘, bei dem man sich beschwert. Dieses anachronistische Konzept, das in den Köpfen ist, können die Pflegenden aber nicht beheben, indem sie den Patient:innen einfach erklären, dass es so nicht ist. Pflegefachpersonen können hier nur Veränderungen erreichen, wenn sie ein professionelles Berufsverständnis leben und die Haltung, die der Ethikkodex beschreibt, umsetzen. Da müssen sie gar nicht viel erklären, sondern es zeigen, dann wird es auch irgendwann verstanden. Zu zeigen, dass sie nicht der ,Hiwi vom Doktor‘ sind und auch nicht die aufopferungsvolle Schwester, sondern eine Pflegefachperson mit ganz bestimmten Verantwortlichkeiten und Kenntnissen.


Der Tag der Pflegenden ist immer Anlass, auf die Situation der beruflich Pflegenden aufmerksam zu machen. Was wünschen Sie sich für die Kolleg:innen, was geben Sie Ihnen mit auf den Weg?
Ich wünsche mir, dass die Pflegenden wirklich erkennen, dass der Ethikkodex ein Identifikationspunkt in ihrer Professionalität sein kann, auf den Sie erst einmal schlicht stolz sein können. Und ich wünsche mir, dass Pflegefachpersonen das auch als Angebot an die Gesellschaft sehen, mit dem sie deutlich machen, dass sie entsprechende Kompetenzen und Verantwortung haben, die sie auch wahrnehmen wollen, genauso wie die Verpflichtungen. Es geht nicht um Selbstausbeutung, sondern um die Bereitschaft, für die Patient:innen und für sich selbst einzustehen. Pflegefachpersonen haben immer noch Hemmungen, zu sagen: ,Ich bin stolz auf das, was ich kann. Wir haben der Gesellschaft etwas zu geben und dürfen etwas dafür erwarten.‘ Ich wünsche mir, dass das in den nächsten Generationen noch stärker akzentuiert wird.

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(IKR)

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