Der International Council of Nurses (ICN) hat 1953 erstmals einen Ethikkodex verabschiedet und ihn seitdem einige Male überarbeitet, zuletzt 2021. Für Deutschland hat der DBfK daran mitgewirkt. Der Kodex formuliert Werte, zu denen sich die Pflegefachpersonen weltweit bekennen und verpflichten. Diese Werte schaffen Rahmenbedingungen zur Ausübung des Berufs und verbinden die Pflege international.
Im vergangenen Jahr hat der DBfK seine Satzung dahingehend verändert, dass das Commitment zum ICN-Ethikkodex bindend für die Mitglieder ist. Mit Constanze Giese, Professorin für Ethik und Anthropologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule (KSH) München im Studiengang Pflegemanagement / Pflegepädagogik, haben wir anlässlich des Tags der Pflegenden am 12. Mai über den Ethikkodex für beruflich Pflegende gesprochen.
DBfK aktuell: Welche Bedeutung hat der Ethikkodex für
beruflich Pflegende?
Constanze Giese: Er ist Ausdruck des Selbstverständnisses
der Profession. Ein berufsethischer Kodex hat immer eine Doppelfunktion. Zum
einen ist es eine Selbstvergewisserung für die Berufsgruppe: Was ist unser
Auftrag? Was ist die eigene professionelle Identität? Oder einfacher gesagt:
Wer sind wir, was machen wir und wofür sind wir verantwortlich? Ethik hat im
Grunde viel mit Verantwortung zu tun. Es geht um eine Verständigung der
Pflegefachpersonen auch auf internationaler Ebene darüber, was die Profession
in einem Binnenraum wie einer Einrichtung, einer Kommune oder in einem Land
ausmacht. Außerdem darum, was nur diese Profession international für die Menschen
beizutragen hat. Der ICN ist nicht irgendjemand, sondern der internationale
Berufsverband, in dem sich die nationalen Dachverbände zusammenschließen. Das hat Gewicht.
Zum anderen hat der Kodex die Funktion, nach außen – in die Breite der
Gesellschaft – zu verdeutlichen: Was habt ihr von der Pflege zu erwarten – als pflegebedürftige
Menschen, als Kolleg:innen anderer Professionen und als Politik und
Gesellschaft.
Gibt es aus Ihrer Sicht einen ganz zentralen Punkt oder
Abschnitt im Kodex?
Zunächst ist das natürlich die Präambel, in der die
pflegerische Verantwortung und zentrale Aufgaben beschrieben sind, dann bauen
die Abschnitte aufeinander auf und beziehen sich aufeinander. Aus dem Aufbau
ergibt sich das erste Element als elementar:
Hier geht es um die Verpflichtung auf das Wohl der Patient:innen bzw.
pflegebedürftigen Menschen, zugleich um Respekt vor der Autonomie und
Selbstbestimmtheit. Ich glaube, die Präambel ist gerade für uns in Deutschland
sehr wichtig, weil Pflegende hier immer noch etwas sprachlos reagieren auf die
Frage: Was machst du denn eigentlich, was ist dein Beruf? Wenn man die Präambel
des Ethikkodex kennt, kann man das professionell beantworten.
Der Kodex ist ein theoretisches Konstrukt. Wie können
Pflegefachpersonen ihn in den Berufsalltag mitnehmen?
Hilfreich ist, die Struktur zu verinnerlichen, dann weiß
man, mit welchem Element man jetzt etwas erreichen könnte – entweder für die
anderen oder für sich selbst. Die Art und Weise der Berufsausübung wird nach
meiner Ansicht sehr konkret dargestellt. Das Interessante ist, dass Pflegende die
Verbindung zu den konkreten Inhalten des Kodex oft nicht herstellen, wenn sie
vor einer praktischen ethischen Herausforderung stehen und sich fragen, was sie
primär tun sollen. Beispielsweise wenn sie mit fehlerhaftem Handeln von Kolleg:innen
konfrontiert sind, wenn sie unzureichende Arbeitsbedingungen vorfinden oder wenn
es um Berufspolitik und Ausbildungsverantwortung geht. Zu all dem bietet der Kodex Orientierung.
Ich stelle mir den Kodex von seiner Struktur her immer in konzentrischen Kreisen vor. Ganz innen der pflegebedürftige Mensch und ich als Pflegefachperson in der Pflegebeziehung. Im nächsten Kreis die Berufspraxis, also wie übe ich den Beruf aus, wie gestalte ich die Praxis. Dann kommt die Professionsentwicklung, das geht wieder einen Schritt weiter. Da geht es nicht nur darum, wie ich praktiziere, sondern was ich beitragen kann, damit die Profession vorankommt. Nicht nur im Sinne von gewerkschaftlicher Aktivität, die brauchen wir auch, aber hier geht es darum, die Profession berufspolitisch und auch wissenschaftlich weiterzuentwickeln dahingehend, was sie für die Gesellschaft leisten kann. Und der vierte konzentrische Kreis außenherum ist die globale Gesundheitsversorgung. Da erschrecken viele und sagen: ,Was, das soll ich jetzt auch noch machen?‘ Aber Achtung, das ist keine Verpflichtung für jede Einzelperson, sondern adressiert die Profession und deren Mitglieder, je nachdem, wo sie stehen. Da geht es um die Vorsorge vor gesundheitlichen Katastrophen, Krisen, Kriegen, denken Sie nur an Corona. Wenn sich die Pflege also Verantwortung zuschreibt, heißt es ja nicht, dass jede einzelne Pflegefachperson alles leisten muss. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich dazu von Kolleg:innen höre: ,Aber das kann ich doch jetzt nicht auch noch.‘ Und ich sage dann: Niemand muss alle Verpflichtungen, die der ICN auf organisationaler, nationaler oder internationaler Ebene im Kodex beschreibt, erfüllen und schon gar nicht gleichzeitig. Aber alle sind verpflichtet, die Verantwortungsübernahme der Kolleg:innen in ihren jeweiligen Bereichen nicht zu unterlaufen oder zu boykottieren. Der Kodex erwartet hier eine grundsätzliche Identifikation mit diesen Aufgaben der Profession, mehr wird nicht verlangt.
Wir alle kennen Situationen im Arbeitsalltag, in denen es
die Bedingungen nicht zulassen, genau nach den ethischen Werten zu handeln. Wie
geht man als beruflich Pflegende:r damit um?
Ich würde nicht so uneingeschränkt stehen lassen, dass man
nach den Werten nicht handeln kann. Man kann vielleicht nicht immer nach den
gleichen und allen handeln. Hier gibt es das schöne Element zwei im Kodex:
Pflegefachpersonen und die Praxis. Ein inhaltlicher Punkt (2.4) ist, dass ich
als Pflegefachperson das Recht habe, sogar die Pflicht, auf mich und meine
Gesundheit zu achten. Damit ist Selbstausbeutung ausgeschlossen. Ich habe das
Recht auf Arbeitsumstände, die mir ein Arbeiten gemäß dem Kodex ermöglichen.
Was aber oft für viele noch schwieriger ist als die Selbstausbeutung, ist für
sich einzustehen und zu sagen: ,Ich kann das jetzt nicht leisten, das ist zu
viel.‘ Das ist weniger ein ethisches als vielmehr ein psychologisch oder
soziologisch zu erklärendes Phänomen. Im Grunde ist klar: Patientenorientierte
Pflege und individuell angemessene Pflege auf dem Stand des Pflegewissens kann ich
nicht leisten, wenn ich eine deutlich unterbesetzte Station vorfinde. Die logische
Konsequenz wäre also, das zu kommunizieren, Alarm zu schlagen und nicht zu versuchen,
es stillschweigend einfach irgendwie hinzukriegen. Und das heißt auch nicht,
dass ich dann nach Hause gehe oder mich weinend hinsetze. Natürlich bleibt die
Verantwortung bestehen, darauf zu achten, dass niemand größeren Schaden nimmt.
Aber der Ethikkodex ist dann nicht die Keule, die mich auch noch unter Druck
setzt und sagt: ,Jetzt hast du wieder gegen die verschiedenen Werte und
Prinzipien verstoßen.‘ Der Ethikkodex sagt: ,Du hast das Recht auf
Arbeitsumstände, unter denen du so arbeiten kannst, wie wir das für
professionell angemessen halten.‘ Genau das steht darin. Es steht da nicht: Geh
über deine Grenzen und mach dich fertig.
Der Kodex ist 2021 aktualisiert worden. Sehen Sie
neuerlichen Aktualisierungsbedarf, z. B. in Bezug auf technische Entwicklungen?
Bei der letzten Anpassung fand ich eine große Schwäche, dass
der Kodex sehr umfänglich geworden ist. Das alles kann sich kaum noch jemand
merken. Einige in der Berufsgruppe möchten es vielleicht noch konkreter und
handhabbarer. Ich glaube aber nicht, dass Detailreichtum es einfacher für die
Leser:innen macht. Wir brauchen kein Handbuch und kein Kochbuch. Es ist ein
Ethikkodex und die Kolleg:innen können selber denken. Ich würde mir wünschen,
dass er übersichtlicher und wieder etwas gestrafft wird und dass die
Querschnittsthemen wie Technik oder Bildung, die in alle Elemente gehören, auch
erkennbar als solche dargestellt werden.
Eine ganz große Stärke der Neuauflage ist die Betonung der Verantwortung für
die Weitergabe von Wissen innerhalb der Profession. Das ist etwas sehr
Konkretes. Es gibt Kolleg:innen, die glauben, es sei nicht nötig, ihr Wissen an
die Schüler:innen oder Student:innen weiterzugeben. Oder sie glauben, es sei nicht ihre
Verantwortung, weil es ja die Praxisanleitung gibt. Aber wer das Privileg einer
guten Ausbildung, vielleicht Fort- und Weiterbildung genossen hat, ist auch soweit
möglich zur Weitergabe verpflichtet. Dass dieser Punkt explizit
im Kodex aufgenommen wurde, halte ich für einen großen Gewinn. Jede:r hat
Verantwortung für Wissen und dessen Weitergabe.
In der Berufsgruppe ist der Kodex bekannt, die Pflegebedürftigen
kennen ihn aber in der Regel nicht. Wie lässt er sich nach außen bekannter
machen?
Pflegebedürftige Menschen haben eine Erwartung an Pflege,
die sich oft nicht ganz mit dem Selbstverständnis der Pflegefachpersonen deckt.
Diese Erwartung ist vielleicht inzwischen relativ niedrig, weil sie auch wissen,
wie eng getaktet die Pflege arbeiten muss. Aber intuitiv ist ihre Erwartung vielleicht
gar nicht so weit weg vom ersten Element des Kodex. Und dann gibt es ja auch
den schönen Begriff der Advocacy, also das Eintreten für die Patient:innen. Das
erwarten viele schon gar nicht mehr, es ist aber Teil der Kernbotschaft im
Ethikkodex. Das Hauptmissverständnis ist hier, dass die pflegebedürftigen
Menschen die Pflege weniger professionell einschätzen, als sie ist oder sein
sollte. Sie neigen dazu zu glauben, Ärzt:innen seien Vorgesetzte der
Pflegenden. Und wenn die Pflege nicht nett ist, irgendetwas nicht passt oder
nicht verstanden wird, ist es ,der Doktor‘, bei dem man sich beschwert. Dieses anachronistische
Konzept, das in den Köpfen ist, können die Pflegenden aber nicht beheben, indem
sie den Patient:innen einfach erklären, dass es so nicht ist. Pflegefachpersonen
können hier nur Veränderungen erreichen, wenn sie ein professionelles
Berufsverständnis leben und die Haltung, die der Ethikkodex beschreibt, umsetzen.
Da müssen sie gar nicht viel erklären, sondern es zeigen, dann wird es auch
irgendwann verstanden. Zu zeigen, dass sie nicht der ,Hiwi vom Doktor‘ sind und
auch nicht die aufopferungsvolle Schwester, sondern eine Pflegefachperson mit ganz
bestimmten Verantwortlichkeiten und Kenntnissen.
Der Tag der Pflegenden ist immer Anlass, auf die
Situation der beruflich Pflegenden aufmerksam zu machen. Was wünschen Sie sich
für die Kolleg:innen, was geben Sie Ihnen mit auf den Weg?
Ich wünsche mir, dass die Pflegenden wirklich erkennen, dass
der Ethikkodex ein Identifikationspunkt in ihrer Professionalität sein kann,
auf den Sie erst einmal schlicht stolz sein können. Und ich wünsche mir, dass Pflegefachpersonen
das auch als Angebot an die Gesellschaft sehen, mit dem sie deutlich machen,
dass sie entsprechende Kompetenzen und Verantwortung haben, die sie auch wahrnehmen
wollen, genauso wie die Verpflichtungen. Es geht nicht um Selbstausbeutung, sondern
um die Bereitschaft, für die Patient:innen und für sich selbst einzustehen. Pflegefachpersonen
haben immer noch Hemmungen, zu sagen: ,Ich bin stolz auf das, was ich kann. Wir
haben der Gesellschaft etwas zu geben und dürfen etwas dafür erwarten.‘ Ich wünsche
mir, dass das in den nächsten Generationen noch stärker akzentuiert wird.
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(IKR)